Die Kurden waren die Verlierer der Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg: Deren Korrosion lässt sie wieder hoffen. Zuerst müssen sie ihre Spaltung überwinden
Die Kurden haben die historische Erfahrung, dass ihre Interessen oder sogar ihr Überleben der regionalen Gemengelage geopfert werden, schon öfter in der Geschichte gemacht. Kobanê wird nun zum neuen Trauma: Es gibt keine strategische Priorität für die neue US-geführte Anti-Terror-Allianz, die Eroberung der Stadt durch den „Islamischen Staat“ (IS) zu verhindern.
Eine türkische Allianz mit den syrischen Kurden kommt für Ankara aus innenpolitischen Motiven nicht infrage: Die syrischen Kurden beziehungsweise die stärkste politische Gruppe PYD (Partei der Demokratischen Union), eine Schwesterpartei der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, hatten im Vorjahr eine kurdische Selbstverwaltung in Rojava (Westkurdistan) aufgebaut, inmitten des syrischen Bürgerkriegs zwischen Attacken von Islamisten und einem passiven – und das wird der PYD von syrischen Oppositionellen vorgehalten – syrischen Regime. Genauso wenig will natürlich die PYD, dass ihr Gebiet von türkischen Truppen besetzt wird, sie will nur Unterstützung für den eigenen Kampf. Und zu alldem kommt das arabische Misstrauen angeblichen „neoosmanischen“ Plänen der Türkei gegenüber.
Aufgesplittert auf mehrere Länder
Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg, der zum Zerfall des Osmanischen Reiches führte – und zur Hoffnung der Kurden auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat, was ihnen im Vertrag von Sèvres 1920 in Aussicht gestellt und 1923 in Lausanne verweigert wurde. Seitdem leben sie aufgesplittert in der Türkei, in Syrien, im Irak und immer schon im Iran, wo sich 1946 der Traum der kurdischen Unabhängigkeit zu erfüllen schien: Die Republik Mahabad, von sowjetischen Gnaden, bestand elf Monate lang.
In Mahabad wurde 1946 Masud Barzani geboren, heute Präsident der kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Sein Vater Molla Mustafa Barzani war jahrzehntelang der wichtigste Kurdenführer, seine Kurdische Demokratische Partei (KDP) mit ihren Länderfilialen die stärkste politische Kraft. Ab den 1970ern erwuchsen dem traditionellen nationalistischen Kurdenverständnis Barzanis jedoch „linke“ Konkurrenten: im Irak die KDP-Abspaltung PUK (Patriotische Union Kurdistans), aber vor allem die türkische PKK, die in den Iran (PJAK) und später nach Syrien (PYD) ausstrahlte.
Die kurdische Identität war in allen Staaten Opfer nationalistischer Agenden: In Syrien entzog Hafiz al-Assad – der andererseits die PKK gegen die Türkei instrumentalisierte – zehntausenden Kurden Staats- und Bürgerrechte. In der Türkei wurde die kurdische Identität pauschal kriminalisiert. Im Irak brachen die anfänglichen Versprechen des 1968 an die Macht gekommenen Baath-Regimes bald zusammen. Als Schah Reza Pahlevi 1975 seinen Streit mit Saddam Hussein beilegte und dem kurdischen Aufstand im Irak die Unterstützung entzog, fanden sich auch die USA damit ab. Den Krieg mit dem Iran in den 1980ern benützte Saddam für eine Vernichtungskampagne, die im Gasangriff von Halabja gipfelte.
Erste Autonomie
1991, nach dem Golfkrieg, griffen die USA ein, als Saddam den (von Washington ermutigten) Aufstand niederschlug. Aus der damaligen Schutzzone wurde die kurdische Autonomie. Das erste demokratische Experiment ging jedoch schief: Es mündete in einem Bürgerkrieg, bei dem Barzani gegen Talabani – der sich um Hilfe an den Iran gewandt hatte – Saddams Truppen nach Kurdistan rief. Der Sturz Saddams 2003 brachte die Wende. Heute ist der kurdische Nordirak so nah an der Unabhängigkeit wie nie zuvor.
Die regionale ideologische Spaltung führte jedoch dazu, dass Barzani – der sich zuvor als Einiger versucht hatte – die syrische PYD-Kurdenautonomie nicht etwa begrüßte, sondern stattdessen die eigene Grenze zu Rojava befestigte. Dafür sind seine Beziehungen zur türkischen Regierung so solide, dass sie sich über ein irakisches Kurdistan wenig Sorgen zu machen scheint – anders als die Iraner, die sich angeblich davor mehr bedroht fühlen als von der IS, wegen der Wirkung auf die eigenen Minderheiten.
Waffen für die Kurden
Barzani braucht Ankara, um Öl zu exportieren – die kurdische Pipeline mündet in Ceyhan ins Mittelmeer. Auch das Öl in den mit Bagdad umstrittenen Gebieten ist, seit die irakische Armee vor der IS davongelaufen ist, unter kurdischer Kontrolle. Allerdings benötigten die irakischen Kurden im Sommer selbst Hilfe gegen die IS: Da entstand zum ersten Mal wieder so etwas wie eine kurdische Einigkeit, die durch Kobanê gestärkt wird.
Die USA sind politisch weiter auf einen Einheitsirak eingeschworen: Die Hilfe gegen die IS kam mit der Bedingung, dass die Kurden in der neuen Regierung in Bagdad mitarbeiten. Das Ende könnte jedoch schnell kommen, die großen Brocken zwischen Erbil und Bagdad sind noch nicht gelöst. Was anders ist als vorher: Die Peschmerga haben, angesichts des IS-Vormarsches, zwar an Nimbus eingebüßt, aber dafür haben sie neue Waffen.
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