Der Außenminister der irakischen Kurdenregion, Falah Mustafa, macht sich für direkte US-Waffenlieferungen an die Peshmerga stark. Bagdad wirft er vor, an einer Partnerschaft mit den Kurden nicht interessiert zu sein.
Die Presse: Vor etwas mehr als einem Jahr hat der sogenannte Islamische Staat (IS) sein „Kalifat“ ausgerufen. Vor einigen Wochen eroberte er die Stadt Ramadi, und er konnte auch erneut in Kobane eindringen. Wurde der IS unterschätzt?
Falah Mustafa: Der IS ist eine Terrororganisation, aber er sieht sich selbst als Staat. Er kontrolliert ein Territorium samt Bevölkerung, verfügt über Ressourcen und staatliche Strukturen und hat nach wie vor kein Problem, Kämpfer zu rekrutieren. Nach Kobane und nach den Anschlägen in Tunesien und Kuwait muss klar sein: Der IS ist eine Bedrohung für uns alle. Es die Verantwortung der gesamten internationalen Gemeinschaft, ihn zu stoppen.
Der Präsident von Iraks Kurdenregion, Massud Barzani, hat in den USA verlangt, die Kurden direkt mit Waffen zu versorgen. Aber Washington will weiterhin Waffen nur an Bagdad liefern.
Die Menschen der Kurdenregion sind stolz, im Kampf gegen den IS an vorderster Front zu stehen. Wir kämpfen für unsere Nation und für Werte wie Menschenrechte und Frauenrechte. Deshalb meinen wir, dass wir diesen Kampf nicht allein führen sollten. Luftangriffe und Militärberater der US-geführten Allianz waren hilfreich. Aber wir brauchen auch schwere Waffen und Munition. Präsident Barzani hat Präsident Obama klargemacht: Wir brauchen diese Waffen, um diesen Krieg zu gewinnen. Damit die Peshmerga nicht noch mehr Opfer bringen müssen, nur wegen des Mangels an Waffen.
Fordern Sie also nach wie vor direkte Waffenlieferungen aus den USA?
Das ist unsere Präferenz. Wenn es nicht möglich ist, möchten wir, dass der Waffenverteilungsprozess vereinfacht wird. Wir müssen immer erst herausfinden, ob es eine Lieferung an Bagdad gegeben hat.
Wie wird die Kurdenregion mit der ökonomischen Belastung durch den Krieg gegen den IS fertig?
Die Frontlinie mit dem IS ist 1050 Kilometer lang. Das ist eine große militärische Herausforderung. Dazu kommt der Zustrom von Flüchtlingen und intern Vertriebenen aus Syrien und dem Rest des Irak. 1,8 Millionen Menschen sind in die Kurdenregion gekommen, die selbst nur 5,5 Millionen Einwohner hat. Wir teilen mit ihnen Elektrizität, Wasser, medizinische Einrichtungen. Unsere Infrastruktur ist überdehnt. Die Kosten von 2015, um die Lage dieser Menschen zu stabilisieren, betragen 1,4 Milliarden US-Dollar. Unser Wirtschaftswachstum fiel wegen des Kriegs von acht auf drei Prozent. Wir wurden zur Heimat und zur Hoffnung für Minderheiten wie Christen und Jesiden, die eine sichere Zuflucht in Kurdistan gefunden haben. Diese Menschen, die so viel gelitten haben, brauchen Hilfe. Meine Botschaft an Österreich und unsere anderen Partner ist: Helft uns, damit wir ihnen helfen können! Dann nehmen die Flüchtlinge auch nicht den Weg nach Europa auf sich.
Wegen der ökonomischen Probleme will die Kurdenregion nun wieder direkt Öl exportieren. Wird das die Regierung in Bagdad nicht verärgern?
Wir haben alles getan, um Bagdad zu helfen. Wir haben Iraks neuen Premier, Haidar al-Abadi, bei seinen Anstrengungen unterstützt. Wir stehen in vorderster Front im Kampf gegen den IS. Aber unsere Peshmerga erhalten nur die Hälfte des Solds, den ein irakischer Soldat erhält – und noch dazu sind diese Zahlungen an uns drei Monate im Verzug. Wir verstehen die Logik dahinter nicht, dass Bagdad der Kurdenregion das Budget nicht überweist. Bagdad hält sich nicht an das Budgetabkommen, das wir abgeschlossen haben. Deshalb haben wir keine Alternative, als direkt Erdöl zu exportieren. Wir brauchen eine Partnerschaft mit Bagdad. Aber Bagdad akzeptiert keine Partnerschaft.
Gibt es neue Ideen für ein Referendum zur Unabhängigkeit der Kurdenregion?
Wir glauben, dass die Menschen in Kurdistan ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Präsident Barzani hat vergangenes Jahr das Parlament aufgefordert, ein Gesetz über ein Referendum zu verabschieden. Über einen Zeitpunkt dafür muss jedoch noch entschieden werden. Derzeit ist aber oberste Priorität, vereint gegen den IS zu kämpfen.
Um das „Kalifat“ des IS zu zerschlagen, muss er aus Mossul vertrieben werden. Wann wird diese Offensive starten?
Wir müssen dabei alles richtig machen: Wir müssen die Sunniten mit an Bord haben. Und die Truppen müssen dafür bereit sein. Denn eine Niederlage beim Versuch, Mossul zu befreien, wäre ein Desaster. Die Führung der Kurdenregion hat klargemacht, dass wir bereit sind, unsere Rolle bei der Befreiung Mossuls zu spielen, wenn auch die anderen Kräfte bereit sind. Wir müssen uns aber vorher darüber im Klaren sein, was am Tag danach geschieht: Wer wird Mossul dann verwalten? Wie können die verschiedenen Gruppen in Frieden zusammenleben?
Falls Iraks Armee nicht bereit ist: Wäre es eine Option, dass die Peshmerga allein – natürlich mit US-Luftunterstützung – eine Offensive gegen Mossul starten?
Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn es die Peshmerga allein versuchten. Es ist wichtig, dass eine Offensive eine gemeinsame irakische Anstrengung ist, in Koordination mit der internationalen Allianz.
Aber die sunnitische Bevölkerung in Mossul fürchtet einen Einmarsch schiitischer Milizen. Und ohne diese Milizen war Iraks Armee bisher nicht sehr schlagkräftig.
Wir müssen sehr vorsichtig sein – wegen dieses Machtkampfs zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen. Die Truppen, die nach Mossul marschieren, müssen aus sunnitischen Kräften, Peshmerga und irakischen Einheiten zusammengesetzt sein.
Vor einem Jahr hat Mossuls Bevölkerung dem IS die Tore geöffnet. Wie kann man diese Menschen nun einbinden?
Sie haben darauf reagiert, wie sie von Bagdad behandelt worden sind. Bagdad muss Verantwortungsbewusstsein zeigen. Es muss die Sunniten einbeziehen und ihnen das Gefühl geben, dass ihre Zukunft besser sein wird als jetzt unter dem IS. Es braucht einen nationalen Versöhnungsplan, und man kann auch über eine sunnitische Region nachdenken.
Die Türkei droht mit einem Militäreinsatz in Syrien. Der Einsatz soll sich offenbar auch gegen die syrisch-kurdischen YPG-Volksverteidigungseinheiten richten, die mit der türkisch-kurdischen Untergrundorganisation PKK verbündet sind. Die YPG werfen wiederum der Türkei vor, IS-Kämpfer nach Kobane eingeschleust zu haben.
Ich bin nicht in der Position, festzustellen, was in Kobane geschehen ist. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Die Türkei kann im Kampf gegen den IS eine sehr wichtige Rolle spielen. Wir hoffen, dass alle unsere Nachbarn verstehen, dass wir einen gemeinsamen Kampf gegen den IS – gegen eine brutale Terrororganisation – führen. Die Kurden im Irak und in Syrien haben gezeigt, dass der IS nicht unschlagbar ist. Und wir brauchen dabei die Hilfe unserer Nachbarn.
Sie sagen, dass alle im Kampf gegen den IS vereint bleiben müssen. In den Gebieten der Jesiden in den Sinjar-Bergen gibt aber bereits erste Spannungen zwischen den Peshmerga der Kurdenregion und den YPG. Kann das zu einem offenen Kampf eskalieren?
Es wird zu keinem innerkurdischen Kampf kommen. Das steht außer Frage. Präsident Barzani hat klargestellt, dass er das niemals zulassen wird. Sinjar ist Teil von Irakisch-Kurdistan. Peshmerga-Kämpfer haben ihr Leben geopfert, um die Menschen in Sinjar und in anderen Gebieten zu verteidigen.
Aber auch die YPG sagen, dass sich ihre Kämpfer für die Jesiden in Sinjar geopfert haben. Und sie wollen deshalb in dem Gebiet weiterhin eine Rolle spielen.
Die Peshmerga haben aber wiederum den YPG in Kobane geholfen. Deshalb sage ich ja: Der Kampf gegen den IS ist eine gemeinsame Aufgabe. Und wir müssen uns weiterhin auf den gemeinsamen Feind konzentrieren.