Entwicklungsminister Gerd Müller hat sich in der vergangenen Woche zwei Tage lang in der nordirakischen Kurdenmetropole Erbil über die Lage der Flüchtlinge und die Bedrohung durch die terroristische Miliz des sogenannten Islamischen Staats (IS) informiert. Der CSU-Politiker verlangt ein Notprogramm der EU für die Region. Mindestens eine Milliarde Euro werde dort benötigt.
Die Welt: Wie ist Ihr Eindruck von der Situation im Norden des Irak?
Gerd Müller: Die Flüchtlingssituation hier ist dramatisch, insbesondere in Dohuk (die Hauptstadt des Gouvernements Dahuk in der Autonomen Region Kurdistan). Es leben Tausende von Menschen auf der Straße, ohne Zelte. Aber die Hilfsbereitschaft der kurdischen Bevölkerung ist überwältigend. Die Flüchtlinge bezeichnen das kurdische Gebiet im Norden des Irak deswegen als sicheren Hafen.
Die Welt: Bleibt das so?
Müller: Der Flüchtlingsdruck nimmt zu. Nechirvan Barzani, der Premierminister der Kurdischen Regionalregierung, hat berichtet, dass von den 26 Camps, die gebraucht werden, erst acht fertig und zehn weitere im Bau sind. Und es bleiben nur noch acht Wochen Zeit, bevor der Regen und dann der Schnee kommen. Wenn nicht schnell etwas geschieht, werden Tausende diesen Winter hier nicht überleben. Das wäre eine Katastrophe – und eine Beschämung der Weltgemeinschaft. Es kann nicht sein, dass wir bei der militärischen Bekämpfung der Terrormilizen des IS erfolgreich zusammenarbeiten, aber die Bevölkerung hinter der Front erfriert und verhungert.
Die Welt: Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Müller: Die Hilfsorganisationen arbeiten sehr gut vor Ort. Aber das Geld reicht nur noch sechs bis acht Wochen, dann muss das Essen rationiert werden. Ich habe deswegen zugesagt, dass ich in der Europäischen Union das Thema mit Nachdruck vortragen werde. Ich bitte den neuen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker inständig, die Hilfe für die Menschen, die vor den IS-Terroristen fliehen, zu seinem ersten Topthema zu machen. Er muss einen Not-Flüchtlingskommissar beauftragen, sofort eine Flüchtlingssondermilliarde aus bestehenden Töpfen bereitstellen. Neben der militärischen und der zivilen Unterstützung müssen EU und UN auf diplomatischem Wege eine Friedensinitiative starten zum Stopp des Syrien-Kriegs und zum Schutz der Jesiden und Christen im Irak.
Die Welt: In welchem Maße ist dabei Deutschland gefordert?
Müller: Für die Flüchtlinge im Nordirak haben wir unsere Unterstützung im August um weitere 20 Millionen Euro aufgestockt. Auf unsere Bitte habe ich Signale aus dem Haushaltsausschuss und dem Finanzministerium, dass wir noch einmal einen spürbaren Beitrag vor dem Winter leisten können. Mindestens ein Camp im Norden des Irak kann deshalb mit unser Unterstützung gebaut werden. Dieses Camp soll vor allem den Frauen und Kindern Hilfe und Zuflucht bieten, die Opfer von Folter und Vergewaltigung geworden sind.
Die Welt: Sie sehen hier besonderen Handlungsbedarf?
Müller: Ich habe hier mit traumatisierten Frauen persönlich gesprochen. Die Gräueltaten, die mir berichtet wurden, sind erschütternd. Frauen erzählten von ihrem Dorf, in dem 400 Männer erschossen wurden. Die Mädchen und Frauen wurden verschleppt, vergewaltigt und verkauft. Hier findet ein Genozid statt. Es ist ein Stich mitten ins Herz. Wir müssten alle aufschreien.
Die Welt: Sollte Deutschland den Opfern Zuflucht bieten?
Müller: Die Lösung liegt hier in der Region. Die Menschen wollen in ihrer Heimat bleiben.
Die Welt: Die internationalen Waffenlieferungen sind angelaufen, wie wird die Sicherheitslage vor Ort eingeschätzt?
Müller: Ich habe auch Menschen getroffen, die gerade von der Front kamen und mir berichtet haben, dass ihnen bereits die Befreiung erster Dörfer von der Gewalt der IS-Milizen gelungen ist. Aber die Lage bleibt natürlich schwierig und die Berichte, die sie bekommen über das menschliche Leid und Elend, sind und bleiben natürlich entsetzlich.
Die Welt: Wurde nach mehr verlangt?
Müller: Nicht bei mir. Es wurde aber ausdrücklich für die Lieferungen gedankt. Die Kämpfe sind nur wenige Fahrstunden von Erbil entfernt. Man ist im Moment in der Stadt sicher, und es setzt sich das Gefühl durch, dass die IS-Truppen nicht weiter nach vorne rücken können.
Die Welt: Wie schätzen Sie das Verhältnis der Kurden zur irakischen Zentralregierung in Bagdad ein?
Müller: Das Verhältnis ist schwierig. Der kurdische Premier Barzani hat mir versichert, dass die Kurden zur Einheit des irakischen Staates stehen. Die gesamte Last der Fluchtbewegung im Land trägt aber allein die kurdische Regionalregierung. Bagdad beteiligt sich nicht solidarisch an der Bewältigung dieses innerirakischen Problems. Die Haushaltsmittel sind noch immer gesperrt. Aber die Kurden sind dennoch Bagdad-treu und an Stabilität interessiert.
Die Welt: Fürchtet der Irak die Entstehung eines selbstständigen Kurdenstaats?
Müller: Ich hatte bereits vergangene Woche mit dem irakischen Außenminister gesprochen und ihm versichert, dass Europa und auch Deutschland an der stabilen Einheit des Staates Irak festhalten. Ich habe auch keinen Anlass, an den entsprechenden Erklärungen der Kurden zu zweifeln.
Die Welt: Ist mehr militärische Hilfe notwendig?
Müller: Jetzt muss zuerst die Solidaritäts- und Überlebensaktion für die Flüchtlinge verstärkt werden. Hier ist unser aller Einsatz gefragt. Und ich muss den Kurden Respekt und Anerkennung zollen. Sie öffnen die Tür und nehmen bis unters Dach Flüchtlinge auf, obwohl viele selbst kein Geld und wenig zum Essen haben. Die Armen verschließen ihr Herz nicht. Das sollte ein Signal für uns sein, mehr Solidarität und Verantwortung zu übernehmen.
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