Walter Hajek, Mitarbeiter des ÖRK-Katastrophenmanagements, hat die Stadt Erbil im Nordirak besucht und sich dort ein Bild von der Lage und den notwendigen Hilfsmaßnahmen gemacht. Im Interview mit derStandard.at erzählt er von der humanitären Situation vor Ort, was noch an Unterstützung benötigt wird und warum die Menschen ihre Hoffnung trotz schweren Schicksals noch nicht aufgegeben haben.
derStandard.at: Wie sieht die humanitäre Situation in den Flüchtlingslagern aus?
Hajek: Im ganzen Irak haben circa 1,8 Millionen Menschen ihr Zuhause verloren und sind jetzt innerhalb der Grenzen auf der Flucht. Ein ganz großer Teil davon, 800.000 bis 900.000 Flüchtlinge, ist jetzt in Kurdistan. Zu diesen kommen noch circa 250.000 syrische Flüchtlinge, die in den letzten Jahren aus Syrien nach Kurdistan geflüchtet sind. Wir haben, verteilt auf ein Gebiet, das ungefähr so groß wie Niederösterreich, die Steiermark und ein Teil von Burgenland ist, deutlich mehr als eine Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Diese Menge an Flüchtlingen führt natürlich zu einer sehr starken Belastung der ansässigen Bevölkerung. Viele sind in öffentlichen Gebäuden wie Schulen untergebracht. Andere leben bei Familien und Freunden. Jene, die am bedürftigsten sind, wohnen auf der Straße, in unfertigen Gebäuden, Garagen und unter der Brücke. Das ist die Gruppe, die am meisten hilfsbedürftig ist, aber auch gleichzeitig am schwersten zu erreichen ist. Es ist immer leichter, Flüchtlinge in einem Camp zu erreichen und zu versorgen als weit verstreute Familien.
derStandard.at: Wie erfolgt die Registrierung zu einem der Flüchtlingslager?
Hajek: Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes im Nordirak (IKRK), unser Partner vor Ort, übernimmt die Registrierung und kümmert sich um Flüchtlinge, die Hilfe brauche. Wir arbeiten auch mit anderen Hilfsorganisationen zusammen, um Doppelregistrierungen zu vermeiden. Wir kontrollieren dann, ob die Flüchtlinge nicht schon von einer anderen Organisation Hilfsgüter erhalten haben.
Im Moment ist die Wintervorbereitung sehr wichtig. Vor Ort hat es gerade um die 40 Grad. Vor einem Monat hat es knappe 50 Grad gehabt. Im Dezember geht es dann runter bis auf den Gefrierpunkt. Das heißt, die Temperaturspanne ist enorm. In den Monaten zwischen Dezember und März herrscht dann gleichzeitig die Regensaison. Auf Kälte und Regen muss man sich gut vorbereiten.
derStandard.at: Gibt es genug Mittel zur Versorgung der Flüchtlinge?
Hajek: Das Problem ist, dass eine große Anzahl an Flüchtlingen in relativ kurzer Zeit angerückt ist. Obwohl das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen guten Zugang zu Kurdistan haben, ist die Summe der Flüchtlinge so groß, dass wir mit den derzeitigen Mitteln nicht alle erreichen können. Ich bin aber trotzdem positiv gestimmt. Die Situation ist durchaus zu bewältigen, es braucht einfach massive Unterstützung.
Anders ist die Situation im Rest des Landes, wo es auch unglaublich viele Binnenflüchtlinge gibt, die Möglichkeit zu helfen jedoch stark eingeschränkt ist. Dieser Umstand hat vor allem Sicherheitsgründe. Die internationalen Organisationen können in Gebieten, die von der bewaffneten Opposition kontrolliert werden, nicht tätig sein. Der Ausdruck „bewaffnete Opposition“ wird vor Ort verwendet, da nicht nur die IS-Miliz als potenzielle Gefahr gesehen wird, sondern auch Teilgruppen wie die sunnitischen Stämme und ehemalige Mitglieder der Baath-Partei – der ehemaligen Partei von Saddam Hussein. Auch für das Rote Kreuz als strikt neutrale Organisation ist das eine Herausforderung. Es gibt aber immer wieder ad hoc Möglichkeiten, auch in diesen Gebieten zu helfen. Wir hoffen, dass uns das in der Zukunft auch immer besser gelingen wird.
derStandard.at: Woher kommen die meisten Flüchtlinge, und was sind ihre Beweggründe?
Hajek: Die, mit denen wir gesprochen haben, kamen aus verschiedenen Dörfern, Mossul und Erbil. Dort bewegen sich die Fronten am stärksten. Viele mussten von einem Moment auf den anderen ihre Sachen packen und ihr Zuhause verlassen. Die meisten haben nichts mitnehmen können. Ein anderes Problem ist, dass viele nicht nur einmal flüchten mussten, sondern mehrmals. Beim ersten Mal hatten sie vielleicht die Möglichkeit, etwas von ihrem Hab und Gut mitzunehmen. Beim zweiten oder dritten Mal dann aber nicht mehr. Am Ende stehen sie mit nichts da. In solchen Fällen muss man die Leute mit ganz grundsätzlichen Dingen ausstatten. Abgesehen von Lebensmitteln und Trinkwasser werden sie mit essenziellen und wesentlichen Haushaltsgeräten wie Pfannen und Töpfen ausgestattet. Viele sind auch noch traumatisiert und geschockt, weil sie Familienmitglieder zurücklassen mussten und mitangesehen haben, wie Leute gestorben sind.
derStandard.at: Wie sehr glauben die Menschen noch daran, dass sie irgendwann wieder nach Hause können?
Hajek: Alle haben die Hoffnung, irgendwann wieder nach Hause gehen zu können. Meinem Gefühl nach rechnet aber niemand damit, dass dies in absehbarer Zukunft möglich sein wird. Die Front geht zwar mittlerweile immer weiter zurück in Richtung Mossul, die Gebiete aber, die zurückgelassen wurden, sind jetzt stark vermint und teils zerstört. Es muss erst aufgeräumt werden, bevor die Menschen zurückkehren.
derStandard.at: Frankreich und die USA haben mit den ersten Luftangriffen begonnen. Haben Sie Luftangriffe und/oder andere Angriffe selbst wahrgenommen?
Hajek: Man merkt insofern etwas, als die Luftangriffe teilweise vom Flughafen Erbil aus gestartet werden. Von den Angriffen selbst haben wir aber nichts mitbekommen. Also man hört keine Raketen- oder Bombenexplosionen.
Das Einzige, wovor hier nun die Furcht steigt, sind Übergriffe der bewaffneten Opposition. Die höchste Sicherheitsbehörde in Kurdistan hat vor wenigen Tagen die Warnstufe erhöht, da sie in den nächsten Tagen Bombenanschläge und Angriffe seitens der bewaffneten Opposition erwartet.
derStandard.at: Wie stark ist die Präsenz der IS-Terrormiliz in dem Gebiet?
Hajek: Also wenn man in Erbil spazieren geht, bekommt man überhaupt nichts mit. Die lokalen Märkte haben offen. Es gibt hier kaum Checkpoints, außer am Flughafen und an strategischen Punkten wie der Stadteinfahrt. Man merkt nicht, dass 50 Kilometer weiter entfernt die Frontlinie verläuft.