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Anfal, Halabja und Sinjar: Wie kann man Völkermorde in Zukunft verhindern?

Die Gräueltaten an jesidischen Kurden durch die Terrormiliz IS, nach der Eroberung der Stadt Sinjar im August 2014, haben weltweit viel Aufmerksamkeit erhalten und Bestürzung ausgelöst. Die UN, die US-Regierung sowie das britische Parlament haben diese Verbrechen als „Völkermord“ bezeichnet. In der Vergangenheit waren Kurden im Allgemeinen und Jesiden im Speziellen schon mehrfach Ziel von Genozid-Kampagnen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure. Im Hinblick auf die Völkermorde im Zuge der Anfal-Kampagne, in Halabja und jüngst in Sinjar setzte sich ein öffentliches Seminar an der Diplomatischen Akademie Wien am Mittwoch, den 27. April 2016, mit der Frage nach Präventionsmöglichkeiten von Genoziden auseinander.

Drei renommierte Experten teilten dabei ihre Erkenntnisse und Einblicke in die Materie mit dem Publikum: Dr. Mohammed Ihsan (ehemaliger Minister für Menschenrechte im Irak und Experte für Völkermord), Professor Dr. Hannes Tretter (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte) und Wieland Schneider (Journalist bei Die Presse). Moderiert von Anna Giulia Fink (Journalistin bei Der Standard) boten Dr. Ihsan und Herr Schneider eine schonungslose Schilderung der Ereignisse der späten 1980er Jahre und von 2014, während Prof. Tretter die rechtlichen Rahmenbedingungen von Völkermord erläuterte.

Dr. Ihsan, Gründer des Zentrums für Völkermordstudien an der Universität Erbil, zog einen Vergleich zwischen verschiedenen Völkermorden durch staatliche und nicht-staatliche Akteure in Kurdistan. Dabei hob er häufige Gemeinsamkeiten bei der Entstehung von zielgerichteten Massentötungen hervor. Zu unterscheiden sind demgemäß verschiedene Stufen wie die Klassifizierung und Entmenschlichung spezifischer Gruppen, die daraus resultierende Polarisierung zwischen beteiligten Gruppen und anschließend konkrete Vorbereitungen und Durchführungen von Gräueltaten, welche schließlich zu Genozid-Kampagnen führen. Um Völkermorde zukünftig zu verhindern müssen laut Dr. Ihsan Umfelder, in welchen Spannungen zwischen verschiedenen Parteien herrschen, genau beobachtet werden und gegebenenfalls Präventivmaßnahmen getroffen werden. Des Weiteren seien Bildung, durch welche über die Mechanismen aufklärt wird, sowie die Schaffung eines internationalen Bewusstseins, auch durch die formelle Anerkennung vergangener Verbrechen, von elementarer Bedeutung. Letztendlich müssen auch zum Zwecke der Abschreckung Täter vor Gericht gebracht werden, denn „ohne die Strafverfolgung von Tätern wird sich die Geschichte abermals wiederholen.“

Wieland Schneider, welcher die Stadt Sinjar kurz nach deren Befreiung besuchte und jüngst ein Buch zu dem Thema „Krieg gegen das Kalifat – der Westen, die Kurden und die Bedrohung „Islamischer Staat“ veröffentlichte, warf einen Blick auf die Gräueltaten an den Jesiden. Durch Fotomaterial von Massengräben, Zitaten von Jesiden welche er vor Ort interviewt hatte sowie Propagandaschriften des IS konnte sich das Publikum ein klares Bild von den schockierenden Verbrechen von vor zwei Jahren machen.

Prof. Tretter, ein erfahrener Menschenrechtler und Gründer des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte in Wien, erläuterte, wie Völkermord in internationalen Konventionen und Verträgen definiert wird und wie die besagten Geschehnisse mit der Definition übereinstimmen. Der international renommierte Experte, dessen Dokumentationen des Massakers von Srebrenica in Bosnien Herzegowina für das Verfahren am International Gerichtshof verwendet wurden, nannte zwei Abkommen, mit welchen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren der Prozess gemacht werden könnte: Die Völkermordkonvention von 1948 und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998. Des Weiteren bestünde für Staaten die Möglichkeit, im Rahmen ihrer nationalen Gesetzte Strafverfolgungen durchzuführen. Die größte Herausforderung sei jedoch, hinreichende Beweise für die Verurteilung einzelner Straftäter vorzulegen.

Die anschließende Diskussion, bei der auch das Publikum Fragen an die Experten richten konnte, griff die Frage auf, inwiefern internationale Anerkennung zur Prävention einer Wiederholung solcher Verbrechen beitragen kann. Unter den Referenten herrschte dabei ein Konsens, dass Anerkennung ein internationales Bewusstsein schafft und die Sensibilität globaler Akteure für den Entstehungsprozess von Völkermorden erhöht. Während dies dazu beitragen könne, staatliche Akteure davon abzuhalten solche Verbrechen zu begehen, würde es nicht-staatliche Akteure wie IS kaum in ihren Entscheidungsprozessen beeinflussen, so Wieland Schneider. Dr Ihsan bekräftigte zudem, das dysfunktionale und zerstrittene Staaten wie Irak besonders anfällig für Völkermord seien. Daher wäre das Finden einer Lösung für die politischen und sozialen Probleme des Irak die bestmögliche Garantie dafür, dass ähnliche Ereignisse in der Zukunft verhindert werden. In diesem Kontext hob Prof Tretter noch hervor, dass eine gemeinsame Position der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen und der Europäischen Union im Speziellen bedeutend sei, um eine Lösung für die immensen Probleme im Nahen und Mittleren Osten zu finden.